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Welten

von Tracy-Christin Apitz (Kommentare: 1)

Begegnung mit Axel Brauns

Zwei Welten trafen aufeinander, so grundverschieden, dass eine Brücke zu bauen, um einander näher zu kommen, keine Möglichkeit zu sein scheint. Axel Brauns war der Moment, wo ich erfolgreich am Autismus scheiterte und aufhörte zu glauben, ich würde den Menschen per se verstehen.

Die Verwicklung in ein Grundstück im Harz, an das ich die Frage stellte, ob es als Gemeinschaftsobjekt geeignet sei, spielte mir zwei unbekannte Email-Adressen zu. So schrieb ich ins Blaue. Ich stellte mich vor und formulierte die Summe denkbarer Möglichkeiten, von deren Verwirklichung ich träumte: Gemeinschaft, inklusive Gemeinschaft, Künstlerdorf, Seminarzentrum.

Eine Antwort erreichte mich:

„Ins Blaue hinein schreiben, ist etwas Wundervolles. So lernt man sich kennen.  Ich bin Schriftsteller und Filmemacher, der lange Zeit arm und nur für sich in Hamburg gelebt und davon geträumt hat, mit seiner Kunst reich und berühmt zu werden. Auf dem Weg dahin ist mir im Jahre 2000 das Geld ausgegangen, so dass ich im zarten Alter von 37 Jahren eine Lehre als Steuerfachangestellter bei meinem Bruder, der Steuerberater ist, habe beginnen müssen. Kaum bin ich das erste Mal zum Tafeldienst in der Berufsschule eingeteilt worden, gewinne ich meinen ersten Literaturpreis und 2002 erscheint nach 17 Jahren des Werdens mein Erstling Buntschatten und Fledermäuse. Das Buch wird ein Erfolg und seitdem lebe ich hauptberuflich als Künstler. [...]“

Meine Aufmerksamkeit blieb an „Buntschatten und Fledermäuse“ hängen. Mehr als zehn Jahre lag es zurück, dass ich diese Autobiographie voll Faszination für jene besondere Welt, in die Axel Brauns seine Kindheit und Jugend einbettet, gelesen hatte. Axel Brauns schreibt aus seinem Leben im Autismus. Dem Wort „autistisch“ sei er mit 18 Jahren das erste Mal begegnet, schreibt er. Weitere 10 Jahre habe es gedauert, bis dieses Wort für ihn ein Begriff von Bedeutung geworden sei und er sich als Autist unter Nicht-Autisten eingeordnet habe.

Als ich "Buntschatten und Fledermäuse" gelesen habe, war ich 21 – wohnte und arbeitete in der therapeutischen Gemeinschaft Brachenreute am Bodensee; Kinder und Jugendliche im Autismusspektrum gehörten zu meinem Alltag, mit mehreren von ihnen lebte ich unter einem Dach. Darunter ein zehnjähriges Mädchen, das Geschichten an ihrem Uralt-Laptop schrieb. Ich staunte, dass sie mir in ihrem Wesen schwer zugänglich blieb, während ich leichten Zugang zu ihren Geschichten fand. Sie schrieb wortgeübt mitten aus dem Leben, an dem sie nur am Rande und innerhalb ihrer eigenen Gesetze teilzuhaben schien. Wenn sich die Hausgemeinschaft zur Erzählstunde traf, konnte ich sie nicht motivieren teilzunehmen, weil es ihr wichtiger, ja geradezu dringlich war, auf ihrem Bett zu sitzen und von Zeit zu Zeit einen Blick auf ihren digitalen Wecker zu werfen. Sie drehte den Wecker zu sich, um den Moment abzupassen, wenn sich gleiche Zahlen zueinander reihten, dann drehte sie diesen wieder mit dem Gesicht zur Wand. Ein Muster, das Belohnung in sich selbst fand.* Wenn ich sie bat, mit nach unten zu den anderen zu kommen, schüttelte sie energisch den Kopf und wartete darauf, dass ich das Zimmer wieder verlassen würde, um ungestört fortzufahren.

* Die kursiv gesetzten Abschnitte entstammen der Feder Axel Brauns', soweit aus dem Kontext nicht anders ersichtlich handelt es sich dabei um Zitate aus „Buntschatten und Fledermäuse“.

Axel Brauns Buntschatten und Fledermäuse

„Da es bei uns viele Überschneidungen gibt, sollten wir uns einmal treffen. Vielleicht könnten wir auch vorher schon mal telefonieren,“ schrieb Axel. Ostern 2018 nahm ich den Zug nach Freiburg, um ihn kennenzulernen. Am Abend vor meiner Zugreise telefonierten wir das erste Mal. Ich hatte Mühe, mich an die Geschwindigkeit seiner Worte zu gewöhnen und mehr noch an das Tempo, mit dem er Fragen stellte. Im gleichen Rhythmus Antworten finden zu wollen, ließ mich völlig aus dem Takt kommen und immer sprachloser werden. „Warte“ hatte ich rufen wollen, als er voraus eilte... Er sagte: „Wir können ja dann in den Ostertagen mal schauen, ob wir für den Rest unseres Lebens zusammenleben wollen.“
Mit der Bitte, mir noch seine Handynummer per SMS zuzusenden, wollte ich unser Telefonat beenden, da ich dem Ruf zum Abendessen folgen wollte. Er erklärte, weil er die Nummer nicht parat habe, wolle er mich sogleich noch einmal anrufen. Ich wiederum erklärte ihm, dass die Nummer dann in meiner Anruferliste stünde, und ich aus dem Grund nicht abnehmen würde. „Doch, du musst abnehmen! Ich will doch noch wissen, in welcher Straße du in Freiburg wohnst,“ sagte Axel. „In der Hildastraße.“ „Und die Hausnummer?“

Am Karfreitag sind wir verabredet. Am Donnerstag ruft Axel an und erklärt, dass er zu diesem Anlass gewöhnlich auswärts zu speisen pflege, aber in Anbetracht der zu erwartenden überfüllten Gaststätte (und der Schwierigkeit Ruhe für ein Gespräch zu finden) auf die Idee gekommen sei, die Küche in der Erwinstraße einzuweihen. Bisher habe er um die Küche einen Bogen gemacht. Jetzt wolle er die Gelegenheit nutzen, sie mit meiner Hilfe in Besitz zu nehmen. An mich richtet er die Frage, was er an Essen besorgen solle, da er sogleich ins Zentrum Oberwiehre einkaufen gehen wolle. Ich frage: „Worauf hast du denn Lust?“ Er sagt, dass ich solch eine Frage einem Autisten nicht stellen dürfe und weiter sagt er: „Ich gebe dir ein Rätsel auf: Wie muss die Frage formuliert sein, damit Axel in die Lage versetzt wird, eine Antwort zu finden? Die Frage geht an die Heilpädagogin?“ Irritiert erwidere ich, dass ich auf die Schnelle keine Antwort wüsste irritiert auch deshalb, weil ich mir vorgenommen hatte, ihm nicht in meiner Rolle als Heilpädagogin zu begegnen. Da ich mit dem Fahrrad unterwegs und ohnehin gerade in seiner Nähe bin, schlage ich vor bei ihm vorbeizufahren, sodass wir gemeinsam einkaufen gehen könnten. Ein kurzes Zögern. Er willigt ein.  

200 m vor seiner Haustür fahre ich an einem Gemüsestand vorbei. Ich mache Axel auf die Nähe des Gemüsestands aufmerksam. Er weist meine Idee zurück und sagt, dass er jeden Tag seinen Spaziergang zum Zentrum Oberwiehre mache, um seine 10.000 Schritte zu gehen. Die WHO empfehle zur Gesunderhaltung 10.000 Schritte täglich. Er greift in seine rechte Hosentasche und zeigt mir seinen Schrittzähler. Diesen habe er von seiner Mutter geschenkt bekommen, als Motivation seine Wohnung in Hamburg wieder zu verlassen. Da hätte es eine Zeit in seinem Leben gegeben, da er die Wohnung nicht mehr verlassen und es immer schlechter um seinen Gesundheitszustand gestanden habe, erklärt er mir, und der Eindruck, den ich mir von seinem Körper mache, bestätigt das.
So wie er es an jedem Axel-in-Freiburg-Tag handhabt, setzen wir uns nach der Ankunft im Zentrum Oberwiehre auf die grüne Bank vorm „Alnatura“. Kurze Redepause. Dann wiederholt Axel sein Anliegen kochen lernen zu wollen, sodass wir jetzt schon mal planen könnten, was wir gleich einkaufen würden. Die Aufforderung geht an mich. Ein italienisches Gericht kommt mir in den Sinn, das ich sehr gern und auch häufiger koche: Süß-Saures Auberginengemüse. Dafür brauchen wir Auberginen, Staudensellerie, Tomaten, Zwiebeln, Knoblauch, Kapern, Reis. Für den zweiten Tag ein einfaches Essen, wie Ofenkartoffeln. Axel zählt alle Dinge auf, die sogleich in unserem Einkaufswagen landen würden und sagt dann, dass er in zehn Jahren noch genau wisse, was wir am 29. März 2018 an Lebensmitteln eingekauft haben und dass ich das aller Wahrscheinlichkeit nach bis dahin vergessen haben würde. Statt zu widersprechen, schaue ich ein weiteres Mal auf den Gemüsestand, der keine zehn Meter vor mir sein Angebot feilbietet, und auf meine Zweifel, ob es überhaupt Staudensellerie gibt. Meine Füße wollen loslaufen und meinen Sinnen die Entscheidung überlassen. Als ich meine Zweifel einräume, dass es womöglich gar keinen Staudensellerie gebe und dass wir dann von Neuem unsere Überlegungen würden anstellen müssen, sagt Axel, dann könnten wir diesen statt bei Alnatura im Edeka kaufen. Es gibt wichtige und es gibt weniger wichtige Regeln. Dieses Mal will ich meiner Regel die Treue halten: Ich kaufe ausschließlich biologische Nahrungsmittel ein. Kurzerhand schwinge ich mich von der Bank auf, laufe einmal um den Gemüsestand im Alnatura herum und finde heraus, dass es tatsächlich keinen Staudensellerie gibt.
Auf meinen Wunsch hin findet die erneute Suche nach dem passenden Essen dieses Mal unmittelbar vorm Gemüsestand statt. „Isst du gern Pilze?“ frage ich ihn. „Nein. Wenn du Axel fragst, ob er etwas mag, wird er immer Nein sagen! Wie musst du die Frage formulieren, dass Axel in die Lage versetzt wird...?“

Am nächsten Tag erzählt mir Axel, dass er am Abend bemerkt habe, dass er seinen Spaziergang im Alleingang vermisst und dass er sich deshalb 23 Uhr nochmals zum Zentrum Oberwiehre auf den Weg gemacht habe. Andächtig zog eine Schar Buntschatten des Weges. Vergnügt stolzierte ich an den niedlichen Wischelhecken entlang und folgte dem Zug. Es durfte nicht geredet werden. Das war ampelwichtig. 

Des Rätsels Lösung, wie die Frage zu stellen sei, dass der Autist in die Lage versetzt würde, eine Antwort zu geben, sieht vor, keine offenen Fragen, sondern nur zwei Dinge zur Auswahl zu stellen. Würde ich auf diese Weise, wenn sich die Auswahl auf zweierlei beschränkt, erfahren können, was er wirklich gern isst? Ich trage meinen Einwand vor. Axel aber erklärt, dass ein Ja von einem Autisten zu bekommen, wichtiger sei, da er in der Entscheidungsnot immer Nein sagen würde. Im Sinne der Teilhabe ist seine Aussage wertvoll; mit meinem sinnlichen Zugang zum Essen fühle ich mich allein.

Axel erzählt aus seinem Künstlerleben: Wenn Axel gefragt wurde, ob er zum Mittagessen bleiben wolle, sagte Axel Nein, zog sich die Jacke an und ging nach Hause, ohne so recht zu verstehen, warum er eigentlich gegangen war, denn es war doch bis zum Schluss schön gewesen. Dieses Muster wird wie aus Versehen unterbrochen, als ihn eine „fühlige Buntschattenfrau“ fragt, ob er zum Mittagessen lieber dies oder jenes essen wolle. Axel entscheidet sich, bleibt das erste Mal zum Mittagessen und fragt sich anschließend, was dieses Mal anders gewesen sei. Es gelingt ihm eine zugrunde liegende Struktur zu erkennen, sodass er sich in zukünftigen Entscheidungssituationen, die sich ihm als zu komplex und unstrukturierbar darstellen, Selbsthilfe geben kann, anstatt aus Überforderung aufzustehen und zu gehen. 

Axels Beispiel erinnert mich an die Begleitung der Kinder im Autismussprektrum in Brachenreuthe: Die wirksamen Gesetze aufdecken, hilfestellend anwenden und auf der Basis einer verlässlichen, tragfähigen Bindung ganz allmählich den Radius, den inneren und äußeren Handlungsspielraum, erweitern.
Lernprozesse verlaufen im Allgemeinen nicht anders, wo liegt also das Besondere beim Autismus? In der therapeutischen Gemeinschaft Brachenreuthe lebte ich mit einem achtjährigen Jungen zusammen, der nur wenige Worte sprach. Ich sah ihn meistens an der Hand seines Bezugsbetreuers. Offensichtlich hatte der Junge seine festgelegte Art, immer an der linken Hand seines Betreuers, vom Vorraum in den Essensraum zu gehen. Für ihn schien das eine sensible Schwelle — das Versammeln der Hausgemeinschaft im Vorraum, das aufgeregte Warten auf den zweiten Gong, der das Signal gab, dass das Essen nun bereitet, der Tisch gedeckt sei, das Hinübergehen und Neuordnen im Essensraum. Dass es eine sensible Schwelle für den Jungen bedeutete, verstand ich erst an dem Tag, als der Betreuer und der Junge ein Vor und Zurück im Türrahmen begannen, der Junge sich schließlich aus der Hand wand, an ihm vorbeihuschte und wieder auf seine vertraute Art durch den Türrahmen gehen wollte. Den Jungen schien es körperlich zu schmerzen, als mit seinem Muster gebrochen wurde. 
Das Besondere am Autismus ist u.a. die ungefilterte Wahrnehmung, das Zuviel an Reizen. Das ungefilterte „Chaos“ dringt unmittelbar ein. Um in diesem Zustand, in dem alles gleichzeitig und ungerichtet geschieht, sich nicht vollständig zu verlieren, braucht es als Gegenpart Richtung, Ausrichtung. Der achtjährige Junge, der im Vergleich zum Erwachsenen weniger Kompensationsmöglichkeiten entwickelt hat, greift auf Strukturen zurück, die ihm Richtung geben und damit Orientierung und Halt.

Da Axel weiß, dass meine Lektüre von „Buntschatten und Fledermäuse“ einige Jahre zurückliegt, fasst er die ersten zwanzig Jahren aus seinem Leben nochmal zusammen und stellt erklärende Bezüge zu heute her. Er spricht davon, dass er plant die Fortsetzung zu schreiben, da sein Buch die Frage, ob Axel eine Freundin finden wird, unbeantwortet lässt und die Antwort viele Jahre auf sich warten lies. Wie heißt die Hauptstadt von Verliebtsein?
Da er in den drei gemeinsamen Tagen immer wieder Bezug zu der Stelle nimmt, wo sein Erlebnis in der geplanten Fortsetzung vorkomme, entsteht bei mir der Eindruck, dass das fertige Manuskript bereits auf der Zimmerdecke seines Kopfes abgelegt ist. 55 Lebensjahre ungefilterte Vergangenheit. Etwa 1000 Seiten dick das ungetippte Manuskript.

Axel erzählt, dass in die Zeit von Buntschatten und Fledermäuse auch die Geschichte der roten Ampel gehöre. Verbote waren rote Ampeln. Auf dem Schulweg blieb Axel an der roten Ampel stehen, während seine Klassenkameraden, als kein Auto zu sehen war, die rotampelige Kreuzung überquerten und ihm von der anderen Straßenseite aus „Feigling“ zuriefen und ihn auslachten. Für einen Moment stoppt Axel im Erzähllauf. Er sagt, dass er fühle, dass ihn das traurig mache und er fragt, warum ihm das niemand gesagt habe, warum diese Regeln nirgends geschrieben stünden, dass Axel, wenn kein Auto kommt, in einem ungesehenen Moment auch bei einer roten Ampel die Straße überqueren könne.   

Axel geht in sein Zimmer und kehrt mit der Taschenbuchausgabe von „Buntschatten und Fledermäuse“ zurück. Er schlägt die erste Seite auf, um den leeren Platz zum Signieren zu nutzen. Den Stift schon auf dem Papier aufgesetzt, hält er inne und lächelt sich selbst zu. Schließlich gibt er sein Schmunzeln preis: „Axel, die nette Frau heißt nicht Hilda. Wie heißt sie nochmal?“ 

Die persönliche Notiz in meinem Buch liest sich wie folgt: Für Tracy, und nicht für Hilda als Dankeschön für die Einweihung meiner Erwinstraßenküche. Axel

„Wie heißt die Straße, in der du in Leipzig wohnst?“ fragt mich Axel. „In der Demmeringstraße.“ Er musste am Abend dem Internet den Straßenplan von Leipzig entlockt haben, denn am nächsten Tag sagte er: „Die Demmeringstraße ist eine lange Straße“. Sein Herz schien einen unmerklichen Freudenhüpfer zu machen und mir anvertrauen zu wollen, wie Hans sein Glück fand.  

So viele Worte. Eins ums andere exakt und schnell aneinander gereiht, als seien sie alle schon gefunden, nicht mehr zu suchen. Aufgefächert wie Mikadostäbe bewegt er sich von einem Erzählstrang zum nächsten, öffnet Seitenstraßen, um schlussendlich alle wieder zu einem präzisen Punkt der Kernaussage zusammenzuführen. Wiederholt sind Axels Gedanken so weit gefasst, dass ich keinen Zweifel an der Größe dieses Denkers habe. 
Plötzlich der Einschub einer privaten Frage: „Was ist an eurer Ehe schief gegangen, dass ihr euch getrennt habt?“ Ich bemerke, dass ich meine Antwort jenseits von roten und grünen Ampeln suche. Im Erwählen meiner Worte werde ich langsamer, weil ich eine Antwort abwäge, die mich nicht vergisst, ihn aber auch nicht. Und weil ich die Momente schätze, wenn meine Worte mein Inneres berühren. Axel unterbricht mein Herantasten an eine Antwort und sagt: „Das ist eher ungewöhnlich“. Dann geht er zurück in seine Seitenstraße. Zu einem späteren Zeitpunkt stellt er fest, dass er im Verlauf unserer Gespräche bemerkt habe, dass ich zögere, wenn er mir persönliche Fragen stelle, mir wäre sicherlich aufgefallen, dass er offener als Nicht-Autisten sei und doch auch gelernt habe vorsichtig zu sein. 

Nach fünf Stunden Zuhören trete ich am frühen Abend auf die Erwinstraße hinaus – voll und leer zugleich. Das „Warte“ hatte ich irgendwann versuchsweise angemerkt, im Grunde hatte ich mich davon überzeugt, dass sein Verstand so schnell arbeitet, dass er seiner eigenen Wort-Ordnung folgen und seine Gedanken abschließen muss, weil er sonst mitten im (Erzähl)Fluss zu ertrinken droht.

„Wie war das Treffen mit Axel?“ fragt mich meine Freundin aus der Hildastraße. „Beeindruckend und verrückt,“ antworte ich. Ich hebe den Kopf an und lege ihn doch sogleich wieder auf dem Sofakissen ab, weil meine Versuche, etwas von dem Gehörten wiederzugeben ins Leere laufen. Axels Worte, denen ich aufmerksam gefolgt war und die mich auch zum Lachen gebrachte hatten, bleiben abwesend. Meine unternommene Anstrengung, irgendwo mit meiner Erinnerung anzukommen, schmerzt fast. Warum hatte ich seine großen, umfassenden Gedanken vergessen, wo ich sonst leichtfüßig und präzise Erlebtes erinnern und wiedergeben konnte? Ich erlebe mich über mein Fühlen. Von dort kommen meine Geschichten. Dort kann ich sie wiederfinden, wenn ich nach ihnen suche. Axels Geschichten waren an einem anderen Ort zuhause.

Axel erzählt mir, dass er seinen Freund konsultiert habe, um herauszufinden, ob ich mich in meiner zweiten persönlicheren Mail als vertrauenswürdig erweisen würde. Erst im Nachhinein wird mir klar, dass er nur mit der Unterstützung des Freundes in der Lage gewesen war, „Danke für deine lieben Zeilen“ zu schreiben.
Konnte nicht nur er mich nicht fühlen, kann ich ihn etwa auch nicht fühlen? Bedingt das eine das andere? Hatte er nicht in seinem Buch geschrieben, dass Emotionen Buntschatten Anwesenheit einhauchten, dass Buntschatten Gestalt annahmen, wenn sie lachten? Wie riecht die Vollständigkeit der Gefühle? Wie empfindet man Anwesenheit, wenn sie sich nicht nur in einem Fuß oder Knie** offenbart, sondern in einem selbst?

(** Wer „Buntschatten und Fledermäuse“ gelesen hat, weiß um Axels Knie- und Fußverletzung.)

Axel bezeichnet sowohl sich selbst als Hans im Glück als auch das Charakteristische am Autismus. Hans im Glück wird für sieben Jahre Arbeit mit einem Batzen Gold entlohnt. Axels Lohn sei sein Sprachgold, sagt er. Hans verliert sein Gold, nicht seine Zufriedenheit. Sein Glück kann ihm nicht genommen werden, weil es nicht da draußen, sondern drinnen liegt. Axel sagt: „Wer Hans im Glück ausrauben will, bleibt besser gleich in der Räuberhöhle, in der 'normalen' Welt, die nicht meine ist.“ Die Räuberhöhle ist Axels Empfinden nach eine Welt voller Lügner und Betrüger. „Du sollst nicht lügen und betrügen. Wer sich darauf nicht einlässt, kann nicht in Axels Gemeinschaft leben,“ sagt er mit Bedacht und Ruhe, als habe er viel darüber nachgedacht, wie eine Gesellschaft aussehen könnte, die nach diesem Wert lebt.

Ich frage nach, um besser greifen zu können, was er mit Lügen und Betrügen meint. Er versteht darunter Menschen, die sich in einem ungesehenen Moment einen Vorteil verschaffen und damit anderen schaden. Davon leitet er die Bezeichnung Räuberhöhle ab.

Wenn ich aus seinen Schilderungen schließe, sehe ich all das:
den mühsamen Versuch in der Räuberhöhle zurecht zu kommen — darauf angewiesen, dass ihm die Wahrheit gesagt wird, weil er Lügen nicht erkennen kann,
den Wunsch nach einer besseren Welt, den Wunsch als Denker seinen Beitrag zu leisten,
seine unantastbare Hans-im-Glück-Fröhlichkeit — zufrieden in der eigenen Welt, welche auch die Welt der Einsamkeit ist und die ungeachtet dessen, ob er allein ist oder mit anderen Menschen zusammen, die gleiche bleibt, weil er Menschen als Dinge wahrnimmt,
das existentielle Bedürfnis nach Ordnung der Dinge und Menschendinge.

Und ich? Ich frage mich, ob ich in dieser Räuberhöhle lebe, in der mich Axel verortet. Ich frage mich, ob ich bereit bin, diese Abmachung zu treffen nicht zu lügen und zu betrügen, wobei Axel mir zugesteht Fehler machen zu dürfen. Er erklärt mir, wie man das wohlwollend angehen könne. Es klingt kritisch geprüft sein Wohlwollen erreicht mich, mein Widerstand erreicht mich: Jede Form von Abmachung, die absolut ist, gibt mir das Gefühl von Enge. Ich bange um meine Selbstbestimmung, bange um mein Gespür für den gegenwärtigen Moment authentisch in Kontakt treten zu können. Ich frage mich, ob Authentizität impliziert nicht zu lügen. Ich frage mich, ob Ehrlichkeit in diesem Diskurs und unserer Begegnung die Ebene ist, die uns verbindet. Ich frage mich, ob Ehrlichkeit für mich Fühlen bedeutet, so dass  sich mein Inneres und mein Nach-Außen-Geben die Hand reichen. Ich frage mich, ob ich den Wert für Gemeinschaft daran bemesse, dass wir gemeinsam Antworten finden, indem wir den Weg gehen und seine natürlichen Prozesse annehmen. Ich frage mich, wie wir gemeinsam gehen können, wenn ich am Anfang stehe und Axel am Ende seiner gedanklichen Auseinandersetzung. 

Zur Verabschiedung begleitet mich Axel vor die Haustür. Ich frage ihn: „Weißt du noch, wie ich heiße?“ „Ja, du bist Hilda aus der Demmeringstraße.“ Menschen haben Namen. Straßen haben Namen.

 

Nachtrag: Anfang des Jahres 2019 zieht Axel von Freiburg nach Leipzig. Diese Postkarte schreibt er mir am 26.2.2019: 
Kaum bin ich in Leipzig gelandet, sause ich auf die schiefe Bahn des Nichtwohinwissens: alles fehlt, alles kennt mich nicht und kein Schwarzwald grüßt am Morgen. Dazu sind mir alle Straßennamen aus der Wiehre abhanden gekommen. Ich bin tieftraurig für Wochen gewesen, Tracy. Jetzt scheint die Sonne! Alles Gute Axel

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Kommentare

Kommentar von Ragna Munyer |

Danke für‘s Teilhabenlassen. Das Bedürfnis nach Welten teilen - und das Erleben der Begrenzung darin - ist immer wieder verwirrend für mich. Schöne Worte, die beide Welten urteilsfrei und ebenbürtig bestehen lassen.

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